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Podcasts können Leben verändern. Nicht nur, indem sie Trost spenden oder Tipps geben – sondern im wahrsten Sinne des Wortes. 2014 verschaffte der Podcast »Serial« dem Fall von Adnan Syed weltweite Aufmerksamkeit. Er wurde wegen Mordes an seiner Ex-Freundin zu lebenslänglich verurteilt, doch Hostin Sarah Koenig hatte Zweifel. Im Oktober diesen Jahres, nach 23 Jahren in Haft, wurden alle Anklagepunkte gegen Adnan Syed fallengelassen. Zwei Podcasterinnen in Deutschland hat diese Meldung viel bedeutet: Linn Schütze und Leonie Bartsch von »Mord auf Ex«.
In Deutschland unschuldig zu lebenslänglich verurteilt werden? Das gibt’s doch nicht, dachte ich. Bis im Oktober die Doku »Unschuldig im Gefängnis? Der Fall Andreas Darsow« im Fernsehen lief. Darin können wir Linn und Leonie bei der Recherche zur ersten Staffel ihres Podcast-Projekts »Die Nachbarn« begleiten. Kurz zum Fall: 2009 werden der Immobilienmakler Klaus Toll und seine Ehefrau Petra nachts brutal ermordet. Ein Jahr später gerät der Nachbar ins Visier der Fahnder – und wird 2011 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Andreas Darsow beteuert bis heute seine Unschuld.
Mittlerweile gibt es eine zweite Staffel »Die Nachbarn« mit neuen Spuren, auf die die beiden nach der Doku gestoßen sind: Schwarzgeld-Betrug, Verbindungen zu den Hells Angels, bis heute unbeachtete Ermittlungsstränge. Was macht die Arbeit an so einem Projekt mit einem? Wie unterscheiden sich eine TV- und eine Audio-Doku? Und wie sind Linn und Leonie eigentlich zum Podcasten gekommen? Das habe ich die beiden im Interview gefragt.
Wie seid ihr eigentlich zum Podcasten gekommen?
Linn: Das war 2019, als Podcasts in Deutschland noch nicht so riesig waren. Wir haben damals beide ein Volontariat bei ProSieben gemacht. Als es um mögliche Themen ging, kam True Crime auf den Tisch – aber niemand fand es spannend, außer wir beide. Ich habe dann gefragt: Wollen wir nicht darüber einen Podcast machen? Ich habe immer die ganzen amerikanischen True-Crime-Podcasts gehört und in Deutschland gab es so zwei, drei, die alle zwei Wochen kamen. Ich dachte immer, irgendjemand muss doch noch mal einen machen. Irgendwann dachte ich dann »Fuck it!«, machen wir es selbst. Leo war sofort dabei.
Leonie: Unser Konzept war damals: True Crime mit dem Gefühl, zwei beste Freundinnen sitzen auf dem Sofa mit einem Glas Wein. Es wird über True Crime Fälle gesprochen aber ist auch persönlich, emotional und vom Gefühl ein bisschen lockerer. So einen Podcast haben wir uns damals selbst gewünscht!
Linn: Ein bisschen nach dem amerikanischen Vorbild »My Favorite Murder«.
Leonie: Mit »Die Nachbarn« haben wir einen guten Spagat hinbekommen. »Mord auf Ex« ist dieses Persönliche, Lockere, teilweise auch sehr emotional, oder wir machen uns über irgendeinen dämlichen Verbrecher lustig. Und dann gibt es »Die Nachbarn«, wo wir einen ganz anderen Anspruch haben. Wir haben zwei Jahre an dem Fall gearbeitet und versucht, ihn nicht nur aufzuarbeiten, zu erzählen, sondern neue Erkenntnisse zu gewinnen, ihn vielleicht sogar zu lösen. Das ist eigentlich das, was wir immer machen wollten. »Die Nachbarn« wird nicht das einzige Projekt bleiben, bei dem wir so aufwendig recherchieren werden.
Linn: Damals wurde auch ganz oft gesagt: »Es gibt schon einen True-Crime-Podcast von zwei Frauen – wieso sollte es noch einen geben?!« Während die ganze Laber-Podcast-Welt von Formaten mit zwei Männern besetzt ist. Da musste ich öfter mal schmunzeln. Wenn wir zwei Männer wären, wäre das wahrscheinlich nie Thema gewesen.
Warum habt ihr euch für eure erste richtige Audio-Reportage gerade diesen Fall ausgesucht?
Leonie: Wir hatten irgendwann mal in einer Lokalzeitung einen Artikel gelesen, in dem es hieß: eventuell unschuldig im Gefängnis. Und wir hatten immer schon geplant, dass wir einen Fall investigativ ein bisschen größer erzählen wollten. Vor allem einen aus Deutschland, weil wir bei »Mord auf Ex« internationale Fälle besprechen.
Linn: Wir haben den Fall Andreas Darsow aber nicht ausgesucht, weil es Zweifel an der Schuld gibt, sondern weil er so unvorstellbar klingt. Von so einem Fall hört man selten. Der ist schon fast vergleichbar mit Amanda Knox oder Jens Söring. Was wir so spannend fanden, ist dieses entweder oder. Entweder ist er ein kompletter Psychopath am Werk, der seine Nachbarn wegen Ruhestörung ermordet hat – oder es sitzt jemand unschuldig im Gefängnis. Dass sowas in Deutschland überhaupt möglich ist, kann man sich gar nicht vorstellen.
Leonie: Dass wir dann die Ermittlungsakten bekommen und so viele Expertinnen und Experten gefunden haben und so viele neue Zeugen – das war am Anfang gar nicht klar. Wir konnten es gar nicht glauben, dass wir so viel Erfolg bei der Recherche haben würden.
Linn: Als wir das erste Mal zum Tatort gefahren sind, waren wir uns noch relativ sicher, dass Andreas Darsow schuldig ist. Und wir wollen uns ja heute auch immer noch nicht festlegen.
Wie unterscheidet sich die Produktion von »Die Nachbarn« jetzt zu der TV-Doku?
Linn: Es macht einen sehr großen Unterschied, ob man mit einem Kamerateam ankommt – oder mit einem Handmikro. Die TV-Dokumentation verfilmt unsere Anfangsrecherche. Das heißt, mit den Protagonist*innen hatten wir schon Kontakt. Es war eine Arbeit von Monaten, dieses Vertrauen aufzubauen.
Leonie: Für alle, die die Doku spannend finden, ist der Podcast eine Ergänzung. In der Doku kannst du von einem Interview zwei gute Sätze nehmen, weil du es auf 90 Minuten runterschrauben musst. Im Podcast kann man viel intensiver erzählen. Darin geht es auch mehr so um unsere Vorgehensweise. Die Doku ist eher das Finale, also das Resultat unserer Recherche – der Podcast ist die Reise dahin. Wenn wir zum Beispiel mit Zeugen telefoniert haben, haben wir das mit dem Mikro dokumentiert. Die ganze Recherche ging ja über zwei Jahre hinweg, aber wir wurden natürlich nicht die ganze Zeit mit der Kamera begleitet.
Was hat der Fall mit euch persönlich gemacht?
Leonie: Schon vorher habe ich nicht angenommen, dass Systeme fehlerfrei sind. Aber bei mir ist so eine Wut aufgekommen. Falls er wirklich unschuldig ist, wird von ihm im Grunde verlangt, ohne finanzielle Ressourcen, selbstständig aus dem Gefängnis heraus zu beweisen, dass er unschuldig ist. Das ist eigentlich unmöglich. Wenn du in Deutschland zu Unrecht verurteilt wurdest, ist es zu 99 % sicher, dass du im Gefängnis bleiben wirst. Wir haben einen Gutachter gefunden, der das pro bono macht, aber das ist eine Seltenheit. Und die wenigsten bekommen solche Hilfe. Sogar mit unserer Hilfe dauert es super lange.
Linn: Wir haben ein sehr gutes Justizsystem, aber das hat eine gewisse Arroganz, die besagt: Wir machen keine Fehler. Aber jeder Mensch macht Fehler. Man bräuchte eine Instanz, die sowas überprüft – aber die gibt es nicht. Es gibt noch nicht mal Statistiken darüber, wie viele Fehlurteile es die letzten Jahre gab. Die eigene Unschuld zu beweisen ist unglaublich teuer oder braucht viel mediale Aufmerksamkeit. Ganz viele der Verhöre wurden zum Beispiel auch nicht aufgezeichnet. Das ist in Deutschland kein Ding – im Gegensatz zu in Amerika – dass ein Tape mitläuft. Dementsprechend kann man im Nachhinein nicht sagen, wie die Fragen gestellt wurden oder ob etwas im Verhör wirklich so passiert ist. Andreas Darsow hatte sich dazu entschieden, ein paar Sachen nicht zu unterschreiben, weil er meinte, sie so nicht gesagt zu haben.
Leonie: Und das macht ihn natürlich dann verdächtig. Indizienprozesse sind in Deutschland erlaubt, in einigen Ländern nicht. Das Problem ist, wenn wir hierzulande jemanden mit einem Indizienprozess verurteilen, dann wäre es für die Revision oder Wiederaufnahme des Verfahrens wichtig, die Beweismittel noch mal alle einsehen zu können. Wenn eins von diesen Beweismitteln das Täterverhalten ist, wäre es natürlich praktisch, wenn das auf einer Aufnahme von der Vernehmung einsehbar ist. Sonst ist es schwierig, es zu revidieren. Was mir Angst macht, ist, dass das Gericht seine Meinung auf Basis der vorgefertigten Erkenntnisse der Polizei formt. Wenn die Polizei falsche Schlüsse gezogen oder eine Spur vernachlässigt hat, dann basiert die Meinung des Gerichts nur auf Puzzlestücken.
Linn: Egal ob Andreas Darsow es war oder nicht – die Familie zu begleiten, mit ihnen im Gerichtssaal zu sein und zu sehen, wie Menschen komplett am Abgrund stehen, das macht schon was mit einem. Die Familie hat einen Vater verloren, einen Bruder, einen Ehemann. Und vor allem müssen sie sich dauernd die Frage stellen: Ist mein Vater, mein Bruder, mein Ehemann ein eiskalter Killer?
Du hast auf dem OMR Festival erzählt, dass oft Leute zu euch kommen und sagen: »Ich habe da auch einen Fall für euch!« Wie geht ihr mit diesen ganzen Anfragen um?
Leonie: Wir freuen uns erst mal voll, denn es ist ja sozusagen unsere Leidenschaft, genau solche Fälle zu recherchieren. Deswegen wünschen wir uns oft, dass der Tag 48 Stunden hätte und nicht 24. Wir haben mittlerweile eine endlos lange Liste mit Fällen, die wir uns noch vornehmen möchten. Aber wir wissen einfach nicht, wann.
Linn: Das bricht einem jedes Mal ein bisschen das Herz, wenn Familien auf einen zukommen und Hilfe brauchen. Deswegen wollen wir uns in unserer Produktionsfirma auch vergrößern. Es gibt so viele Fälle, die mehr Aufmerksamkeit verdienen.
In dem Fall, den der legendäre True-Crime-Podcast »Serial« behandelt hat, gab es eine plötzliche Wendung. Wie habt ihr das aufgenommen?
Leonie: Das hat uns Hoffnung gegeben. Meine liebste Schlagzeile war: »Mann kommt frei, dank eines Podcasts«. Das ist für uns total die Motivation. Klar, das Medium Podcast sollte nicht zum Aktivismus werden, wenn man journalistisch arbeitet, aber wenn eine gute Recherche gehört und gesehen wird und dafür sorgt, dass die Beweismittel vor Gericht verwendet werden können – dann ist das unglaublich stark.
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